Das britische Studio Wales Interactive hat sich in der Vergangenheit bereits einen Namen für seine Veröffentlichungen von FMV-Spielen gemacht und da ich dem Genre schon immer etwas abgewinnen kann, habe ich bereits in der Vergangenheit über die Spiele „Late Shift“, „The Infectious Madness of Doktor Dekker“, „The Shapeshifting Detective“, „Headspun“ und „Simulacra“ berichtet. Doch so ambitioniert wie mit dem aktuellen Werk war bislang kaum eine der Veröffentlichungen, da „The Complex“ insgesamt weniger Spiel, als die anderen Veröffentlichungen ist. Es handelt sich vielmehr um einen interaktiven Science-Fiction-Film zum Spielen. Jedoch stellte sich die Frage, ob das Gesamtwerk dennoch als „Spiel“ überzeugen kann.

Im Zentrum der Handlung steht die Wissenschaftlerin Dr. Amy Tenent, die im Auftrag für einen großen Pharmaziekonzern an dem Einsatz von Nanozellen forscht. Als jedoch ihre Forschung zum zentralen Mittel eines als Bio-terroristischer Angriff eingestuften Zwischenfalls in der Mitte von London wird, müssen sie und ihr Team herausfinden, was genau passiert ist. Denn ein solcher Zwischenfall wurde in Anbetracht der Sicherheitsvorkehrungen ihrer Forschungseinrichtung eigentlich für unmöglich gehalten. Doch als Amy zusammen mit einigen anderen Wissenschaftlern beginnen die vermeintliche Terroristin im Hochsicherheitslabor des titelgebenden „Complex“ zu untersuchen, plötzlich ein Lockdown imitiert wird und darauf sogar bewaffnete Angreifer versuchen in das Labor einzudringen wird deutlich, dass mehr als nur ihre Forschung auf dem Spiel steht und nicht alle Kollegen mit offenen Karten spielen und es liegt an uns als Spieler in welche Richtung sich die Geschichte entwickelt…

Technisch ist das Spiel echt gelungen und kann mit seinem hohen Production-Value mit hochwertigen TV-Serienproduktionen mithalten. Einzig ein paar CGI-Einsätze wirken stellenweise nicht ganz auf der Höhe der Zeit, was aber im Großen und Ganzen nicht weiter ins Gewicht fallen würde, da sie recht spärlich eingesetzt werden. Die Schauspieler, die man abseits von Kate Dickie, die man als Lysa Arryn aus Game of Thrones kennen dürfte, sind eher unbekannt, liefern aber insgesamt wirklich einen guten Job ab. Besonders hervorheben muss man dabei Michelle Mylett, die Hauptcharakter Dr. Amy Tenent verkörpert und durch die unterschiedlichen Entscheidungsmöglichkeiten des Spielers einiges an Wandlungsfähigkeit in den unterschiedlichen Verläufen der Geschichte zeigt, was zugegebenermaßen erst so richtig auffällt, wenn man das Spiel mehrfach mit unterschiedlichen Entscheidungen spielt.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass es Regisseur Paul Raschid und Story-Supervisor Lynn Renee Maxcy, die vorher unter anderem an der TV-Serie „The Handmaid’s Tale“ mitgearbeitet hat, gelungen ist unabhängig der Entscheidungen und stimmiges Gesamtbild ohne gröbere Logiklöcher und Anschlussfehler zu schaffen, was kein leichtes Unterfangen gewesen sein dürfte. Denn nicht nur bietet das Spiel insgesamt 9 unterschiedliche Enden, sondern auch 196 separate Szenen, die durch unsere Entscheidungen bestimmt werden und was logischerweise dazu einlädt das Spiel mehr als einmal durchzuspielen. Dabei geht jeder Durchgang knapp zwischen 60 und 90 Minuten, wobei man ab dem zweiten Durchgang bereits gesehene Szenen überspringen bis zur nächsten Entscheidung überspringen kann, was das „Ausprobieren“ weiterer Alternativen nicht so tröge gestaltet, wie bei anderen Spielen.

Spielerisch nimmt das Spiel dabei starke Anleihen bei den Spielen von Telltale oder den Choose-your-own-Adventure-Büchern aus den 80ern, verzichtet dabei aber komplett auf Quick Time Events, sondern beschränkt die Interaktion des Spielers mit der Handlung immer auf die Auswahl unterschiedlicher Handlungsoptionen und die jeweilige Handlung wird dann vom Spiel an sich durchgeführt. Zusätzlich haben unsere Auswahlen, wiederrum ähnlich wie bei Telltale, auch direkte Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Amy und den anderen Personen, was übersichtlich jederzeit über das Pause-Menü angezeigt wird. Ist uns eine Person dabei wohlgesonnen tun sich andere Handlungsmöglichkeiten auf, als nicht. So hatte ich es mir zum Beispiel in meinem ersten Durchlauf mit einer Person verscherzt, die darauf in einer anderen Szene auf meine Frage nach Hilfe, abweisend reagierte und nicht bereit war mir zu helfen. Bei einem anderen Durchlauf half mir die Person hingegen, was zu einem komplett neuen Handlungsstrang im Verlauf der Geschichte führte.

Insgesamt hatte ich eine Menge Spaß mit „The Complex“, auch wenn einige Leute dem Spiel wahrscheinlich negativ ankreiden werden, dass nicht genug „Spiel“ im Spiel ist. Dabei ist Geschichte sehr spannend erzählt, beinhaltet einige wirklich interessante Wendungen und zieht uns durch die direkte Einflussnahme von Anfang an in ihren Bann. Da die Zusammenhänge zwischen unseren Entscheidungen und den Konsequenzen auf den Verlauf der Geschichte nicht immer offensichtlich sind macht es auch überaus viel Spaß das Spiel mehrfach zu spielen, um die Veränderungen im allgemeinen Verlauf oder dem Verhalten der Charaktere untereinander zu sehen. Die Schauspieler agieren dabei professionell und glaubwürdig und das Stilmittel FMV passt gut zum Science-Fiction-Setting, das auf Grund der weltweiten Ausbreitung von Corona einen ungewollten Realitätsbezug bietet. Wenn man berücksichtigt, dass das Spiel gemessen an den unterschiedlichen Szenen und Enden weit über die Laufzeit eines normalen Films hinausgeht und wenn man dem Medium des interaktiven Films nicht abgeneigt ist, kann man mit dem Spiel im Grunde nichts falsch machen.
Entwickler: Wales Interactive, Good Gate Media, Jade Productions
Publisher: Wales Interactive
Erhältlich auf: PC, PS4, Xbox One, Nintendo Switch
NB@14.04.2020
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